Pauli Passion

Stadtteiltheater als Lernort für die städtische Zivilgesellschaft

St.Pauli - wer hätte nicht schon von ihm gehört, dem legendären Hamburger Stadtteil, für viele jenseits der Stadtgrenzen Synonym für die Hansestadt selbst? Doch der berühmteste Hamburger Stadtteil ist zugleich auch ein sozialer Brennpunkt: Aufgrund von Arbeitslosigkeit gibt es massive soziale Verelendungsprozesse; der Stadtteil ist gemessen am Hamburger Durchschnitt drei- bis viermal so dicht bebaut und verfügt kaum über Grünflächen; 40 % der Stadtteilbevölkerung sind MigrantInnen; die Jugendarbeitslosigkeit liegt weit über dem Hamburger Durchschnitt; Alkoholismus und Gewalt gehören zum Alltag.

Und wer kennt sie nicht, die unzähligen Filme und Vorabendserien, in denen eben diese soziale Realität als pittoreske Kulisse für Sex and Crime-Klischees benutzt und zugleich verharmlost wird? Doch wie könnte dieser medialen Enteignung begegnet werden? Wie könnten die Menschen, die hier leben, ihre Statistenrolle ablegen, und mit ihren eigenen, vielfältigen Geschichten selbst die Bühne betreten? Antworten auf diese Fragen versucht das Stadtteiltheaterprojekt PAULI PASSION zu geben, das in den Sommern 2001/2002 für Furore sorgte und dem der 1. Hamburger Stadtteilkulturpreis verliehen wurde.

Das Theaterstück sollte die Identifikation der Leute mit ihrem Stadtteil und der Nachbarschaft stärken, die kreative Eigentätigkeit und die Entwicklung sozialer Kompetenzen fördern, eine Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft und die „Rückgewinnung öffentlicher Räume” 1, des Platzes vor der Tür des Kölibri, ermöglichen. Dies nur einige der Ziele, die die 6 MitarbeiterInnen der GWA St.Pauli-Süd mit ihrer Idee eines Theaterstücks, geschrieben und gespielt von St.PaulianerInnen, verfolgten. Eines davon war bereits lange vor der Premiere erreicht: Das entstehende Theaterstück mit Geschichten aus dem Stadtteil brachte viele BewohnerInnen des Viertels zusammen, beim Mitmachen, in der Organisation, beim Darüber-Reden und beim Zuschauen während der Proben auf dem Hein-Köllisch-Platz. Da tänzelte das „Hundekackeballett” im Walzerschritt über das Kopfsteinpflaster, eine Choreografie aus riesigen, glänzenden Schaumstoff-Kackhaufen. Es folgten „Faust auf St.Pauli”, Hagenbecks Amazonen, Chinesen und Hafenarbeiter, der Leiter des NSDAP-Kreisbüros Wilhelm Adolf und nicht zuletzt Hein Köllisch in einer groß angelegten Zeitreise durch Geschichten aus der Historie des Viertels. Maria mit der Suppenküche, der kleine König von St.Pauli und OCB, Findelkind mit Hang zum Poetischen führten durch die Ereignisse, heftig gestört von zwei geschäftstüchtigen MedienvertreterInnen mit Hang zur Kolonialisierung von ,authentischen Ureinwohnern’, die St.Pauli als virtuelles Event vermarkten wollen.

Teilnahme

Knapp 100 St.Paulianer- Innen im Alter zwischen 7 und 70 Jahren mit unterschiedlichen Nationalitäten waren an dem Projekt beteiligt, viele als SchauspielerInnen, fast ebensoviele als OrganisatorInnen und HelferInnen. Einige trafen sich im Vorfeld in der Recherchegruppe, um im Stadtteil Interviews mit BewohnerInnen zu führen oder Archive zu durchwühlen. Sie entdeckten Menschen in ihrer nächsten Umgebung, die nur darauf warteten, dass ihnen endlich mal jemand zuhört. Es waren intensive, sehr persönliche Gespräche, z. B. mit einer älteren Prostituierten, einer ehemaligen Zwangsarbeiterin und einem türkischen Ehepaar. Andere stellten in einem Maskenbau-Workshop Großmasken für das Stück her oder übten sich in einem Workshop im Theaterspiel.   

Regie

Das Kunststück, all diese Bausteine zu einer spielbaren Geschichte zusammen zu setzen, vollführte die Hamburger Regisseurin Christiane Richers. Die MitarbeiterInnen der GWA stellten zahlreiche Kontakte mit StadtteilbewohnerInnen her. Für viele war die Teilnahme an dem Projekt das erste praktische Theatererlebnis, für einige die erste Berührung mit Theater überhaupt. Ein halbes Jahr vor der Premiere begann die intensive Probenzeit, während im Nebenraum entworfen, gebaut, gepinselt und genäht wurde. Kostümausstattung, Herstellung des Bühnenbildes und Technik wurden von Profis angeleitet oder durchgeführt. Die bunt zusammengewürfelte Truppe aus Menschen unterschiedlichen Alters, verschiedener Nationalitäten und Persönlichkeiten und unterschiedlicher Bildungsstandards war nicht leicht unter einen Hut zu bringen. Da waren Konflikte vorprogrammiert. Konkurrenz, fehlende Verbindlichkeit, die Schwierigkeit, Texte zu lernen, Probleme mit körperlicher Nähe und soziale und psychische Probleme Einzelner führten immer wieder zu Unmut und Auseinandersetzungen. In Einzelgesprächen oder regelmäßigen Gruppensitzungen wurde diskutiert und wurden Konflikte ausgetragen. Einige verließen die Gruppe, manche kamen dann doch wieder. Im Laufe der Probenarbeit veränderten sich die TeilnehmerInnen sichtlich. Das Selbstvertrauen und der Respekt vor der Leistung der anderen wuchs. Unzuverlässigkeiten gab es kaum noch, alle waren sich ihrer Verantwortung für das Gesamtwerk bewusst. Kritik wurde konstruktiv geäußert, es wurde gelobt und getröstet. Es entwickelten sich neue Freundschaften. Kontakte, die auch über das Projekt hinaus Bestand hatten. Für drei der Laien- Darsteller ergab sich im Anschluss an PAULI PASSION ein neues Theater-Engagement. Durch die theaterpädagogische Kompetenz der Regisseurin gelang es, auch Menschen mit erheblichen sozialen Problemen, wie z. B. Obdachlosigkeit, zu integrieren und sie ihre künstlerische Substanz entfalten und entwickeln zu lassen. Ein obdachloser Teilnehmer wurde durch seine Aktivierung befähigt, eine neue Anstellung zu finden.

Mit PAULI PASSION ist es gelungen, Menschen das Erleben von Urbanität im Sinne von Identifikation mit ihrem Stadtteil und Partizipation am öffentlichen Leben zu ermöglichen.

Erfahrungen

Sicher, für manche/n war dieses Angebot nicht niedrigschwellig genug und die sozialen Probleme lassen sich durch das Projekt nicht lösen. MancheR wagt vielleicht, sich bei einem Folgeprojekt zu beteiligen. Das Mitmachen kann ein Ansatz sein, wieder am Leben teilzunehmen. Menschen werden in ihrer Zukunft nur dann bei der Entwicklung und Planung ihrer Stadt im Sinne bürgerlichen Engagements (Volksbegehren, Volksentscheide, Runde Tische...) mitentscheiden wollen und können, wenn sie positive Erfahrungen mit Beteiligungsformen gemacht haben, wenn sie erlebt haben, dass sie eine Rolle spielen in dieser Gesellschaft. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Gefahr durchaus besteht, dass die Selbstbestimmung, die die Zivil- oder Bürgergesellschaft verspricht, vor allem denjenigen zugute kommen könnte, die über eine relativ starke und sichere Stellung in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt verfügen, die also materiell und psychisch stabil sind, während sich die Position der im Markt Benachteiligten weiter verschlechtert. Gerechtigkeit in der Verteilung von Arbeit ist demnach eine Voraussetzung für die Entfaltung neuer Bürgerarbeit (Albrecht Göschel). (2)

Wenn angesichts schwindender Mittel in den Haushalten heute ein stärkeres bürgerschaftliches Engagement eingefordert wird, fragt sich auch, ob damit nicht einer neoliberalen Deregulierung wohlfahrtsstaatlicher Standards das Wort geredet wird. „Erforderlich ist auch weiterhin ein klares Bekenntnis zur öffentlichen Verantwortung in der Kulturpolitik, die keinen Zweifel daran lässt, dass Bund, Länder und Gemeinden nicht die günstige Gelegenheit nutzen dürfen, um sich sukzessive dieser Verantwortung zu entledigen. Sie sind und bleiben die Hauptakteure, die das öffentliche Allgemeinwohl im Auge zu behalten haben und die Initiative übernehmen müssen für eine Kulturpolitik in der Bürgergesellschaft.” (3)  

Kosten

Mit 44.000 Euro plus 25.000 Euro für die Wiederaufnahme 2001 war PAULI PASSION ein kostenintensives Projekt. In 2 Jahren wurden 9 Vorstellungen gezeigt mit ca. 2000 ZuschauerInnen. Honorare für Regie und Profis und Kosten für Tontechnik verschlangen große Teile des Geldes. Das Einwerben der Sponsorengelder und Spenden gestaltete sich schwieriger als erwartet, insbesondere im zweiten Jahr. Für viele Firmen war das Projekt zu klein, Stiftungen fühlten sich nicht zuständig. Trotzdem gelang es, die Produktion im zweiten Jahr weitestgehend über Zuschüsse, Spenden und Eintritte zu finanzieren. Hilfreich und ermutigend war die Verleihung des 1. Hamburger Stadtteilkulturpreises an das Projekt, der mit 5.000 Euro dotiert war.  

 

Entwicklung

Aus dem Projekt „PAULI PASSION” ist in 2003 das Mobile Elysium Theater hervorgegangen mit 10 Darstellerinnen, die unter der Leitung von Christiane Richers das Projekt „PAULI quer- Ab, ein szenischer Rundgang zu vergessenen Orten unerhörten Geschehens” entwickelt haben. Ein Rundgang durch St.Pauli abseits des Kiezes. Wurde in „PAULI PASSION” den Spuren historischen Geschehens nachgegangen, wird diesmal auf Verfremdung des Prosaischen gesetzt. Der Rundgang, auf den ca. 50 ZuschauerInnen mitgehen können, ist in diesem Sommer vier mal gespielt worden und war immer ausverkauft. Am 2. und 6. Oktober 2003 finden weitere Vorstellungen statt.  

Carola Plata, veröffentlicht in ID Soziokultur 3/2003

 

(1) Alexander Flohé, Soziokultur und Städtische Zivilgesellschaft, ID Soziokultur 2/2003, S. 3

(2) Albrecht Göschel: Kulturpolitik und Bürgergesellschaft, Kulturpol. Mitteilungen Nr. 90, III/2000, S. 25

(3) Norbert Sievers: Netzwerk Kulturpolitik, Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 90, III/2000, S. 36